Affinity Bias im Recruiting – Warum wir Menschen bevorzugen, die uns ähneln
1. Wenn Sympathie die Entscheidung trifft
Ein Bewerbungsgespräch läuft rund. Der Kandidat lächelt, wirkt offen, teilt denselben Studienort, dieselbe Leidenschaft für Fußball. Der Hiring Manager sagt nach dem Gespräch: „Der passt perfekt zu uns.“
Kein Mensch nennt das Diskriminierung. Es ist Sympathie – und genau das macht es so tückisch.
Affinity Bias bedeutet, Menschen zu bevorzugen, die uns ähneln. Er passiert automatisch.
Im Recruiting sorgt er dafür, dass Kandidaten mit vertrauten Merkmalen – Bildung, Dialekt, Karriereweg, Humor – bessere Chancen haben als jene, die „anders“ wirken.
Das ist kein böser Wille, sondern menschliche Psychologie. Aber es führt zu schlechteren Entscheidungen, weniger Vielfalt und höheren Risiken.
2. Die Psychologie hinter der Ähnlichkeit
Das Gehirn liebt Muster. Es bewertet Informationen nicht objektiv, sondern nach Vertrautheit.
Schon 1968 zeigte die Similarity-Attraction-Theory (Byrne): Menschen fühlen sich zu Personen hingezogen, die ihre Einstellungen, Werte und Erfahrungen teilen.
Im Jobkontext bedeutet das: Ähnlichkeit = Vertrauen.
Drei Mechanismen verstärken diesen Effekt:
Selbstbestätigung: Wir interpretieren Ähnlichkeit als Kompetenz. „Er denkt wie ich – also richtig.“
Vertrautheitsheuristik: Unbekanntes kostet Energie. Bekanntes gibt Sicherheit.
Soziale Spiegelung: Wer uns ähnelt, spiegelt unser Selbstbild – und das fühlt sich gut an.
Das Problem: Recruiting ist kein Freundschaftsprozess. Wenn persönliche Sympathie zu stark ins Gewicht fällt, verliert Objektivität.
3. Wie Affinity Bias in der Praxis wirkt
In Bewerbungsgesprächen läuft Bias selten offensichtlich ab. Er versteckt sich in kleinen Gesten:
Ein kurzer Lacher, weil der Bewerber denselben Dialekt hat.
Ein Pluspunkt, weil beide im selben Konzern gearbeitet haben.
Ein Schulterklopfer, weil man „sofort auf einer Wellenlänge“ war.
So entsteht die Illusion eines „Cultural Fits“ – obwohl nur Ähnlichkeit bestätigt wurde.
In der Folge werden Profile bevorzugt, die dem bestehenden Team ähneln. Und jedes Mal, wenn das passiert, wird die Organisation homogener.
Beispiel:
Ein mittelständisches Softwarehaus stellte jahrelang fast ausschließlich Absolventen der gleichen Hochschule ein. Die Fluktuation war niedrig, aber Innovation auch. Erst nach einer internen Analyse erkannte man: 90 % der Bewerber mit anderem Hintergrund waren bereits in der Vorauswahl gescheitert – wegen „fehlender Passung“.
4. Die Kosten der Gleichförmigkeit
Homogene Teams denken schneller, aber nicht besser.
Studien von Harvard Business Review und McKinsey zeigen: Unternehmen mit hoher Diversität treffen fundiertere Entscheidungen, sind innovativer und profitabler.
Wenn dagegen alle dieselbe Brille tragen, passiert Folgendes:
Gruppendenken: Widerspruch fehlt, Risiken werden unterschätzt.
Fehlentscheidungen: Man vertraut lieber auf „Gefühl“ als auf Daten.
Talentverlust: Menschen, die anders denken, gehen – oder bewerben sich gar nicht erst.
Ein Beispiel aus der Praxis:
Ein Industrieunternehmen stellte über Jahre nur Ingenieure mit ähnlichen Profilen ein. Als eine Lieferkrise kam, fehlten Ideen für alternative Beschaffungswege – niemand im Team hatte je außerhalb des eigenen Ökosystems gearbeitet. Der Bias hatte das Denken verengt.
5. Wenn KI denselben Fehler macht
Viele Unternehmen hoffen, dass KI-Tools Fairness schaffen.
Doch Algorithmen lernen von historischen Daten – und spiegeln damit menschliche Vorlieben.
Wenn bisher ähnliche Kandidaten bevorzugt wurden, verstärkt die Software genau dieses Muster.
Das nennt man algorithmischen Bias – im Kern nichts anderes als Affinity Bias in digitaler Form.
Beispiel:
Ein Konzern trainierte sein Matching-System mit Daten aus erfolgreichen Bewerbungen der letzten zehn Jahre. Die Folge: Bewerberinnen wurden systematisch niedriger gerankt, weil in den Trainingsdaten überwiegend Männer vorkamen, die denselben Bildungshintergrund teilten.
Der EU AI Act macht Schluss mit dieser Grauzone: HR-Software gilt als High-Risk-System. Unternehmen müssen Bias dokumentieren, Datenquellen prüfen und unabhängige Audits durchführen.
Technologie entbindet nicht von Verantwortung.
6. Wie Affinity Bias Diversity-Maßnahmen sabotiert
Viele Firmen starten Programme für mehr Diversität – und wundern sich, dass sich wenig ändert.
Grund: Der Bias arbeitet leise dagegen.
Ein Unternehmen kann noch so viele Schulungen und Kampagnen machen – wenn Führungskräfte weiterhin „nach Bauchgefühl“ einstellen, bleibt alles beim Alten.
Denn Affinity Bias wirkt subtiler als jede Quote.
Er sabotiert:
Anonymisierte Bewerbungen, wenn Namen nachträglich doch ins Gespräch rutschen.
Diversity-Ziele, weil „Teamharmonie“ höher bewertet wird als Unterschiedlichkeit.
Mentoring-Programme, wenn Mentoren nur Mentees wählen, die ihnen ähneln.
So bleibt Vielfalt ein Marketingthema statt gelebte Praxis.
7. Der Mut zur Reibung
Ein Unternehmen ist kein Freundeskreis.
Die besten Teams bestehen nicht aus Gleichgesinnten, sondern aus Menschen, die sich herausfordern.
Reibung erzeugt Fortschritt – sofern sie professionell moderiert wird.
Führungskräfte, die Vielfalt ernst nehmen, fördern bewusst Widerspruch.
Sie besetzen Teams so, dass Perspektiven kollidieren dürfen, ohne dass Konflikte eskalieren.
Das kostet Energie, bringt aber Tiefe.
Beispiel:
Ein Familienunternehmen in Niedersachsen stellte nach einem Workshop zur Bias-Erkennung gezielt Mitarbeitende mit gegensätzlichen Arbeitsstilen ein. Das erste Jahr war anstrengend – mehr Diskussionen, mehr Abstimmungen. Doch danach stiegen Innovationsrate und Kundenzufriedenheit signifikant.
8. Wege aus der Sympathie-Falle
Affinity Bias lässt sich nicht vollständig eliminieren, aber kontrollieren.
1. Strukturierte Interviews
Alle Bewerber erhalten dieselben Fragen, Antworten werden nach Kriterien bewertet. So zählt Leistung statt Gefühl.
2. Bewertungsmatrix
Definiere Kernkompetenzen (fachlich, sozial, strategisch), vergebe Punkte, dokumentiere Entscheidungen. Objektivität braucht Zahlen.
3. Zweitinterviews mit Perspektivwechsel
Lass eine zweite Person aus einem anderen Bereich das Interview führen. Unterschiedliche Sichtweisen decken Verzerrungen auf.
4. Feedback-Reflexion
Nach jedem Gespräch notieren: Was hat mich überzeugt – und warum?
Wenn Antworten häufig „gute Chemie“ oder „ähnlicher Typ“ lauten, ist der Bias aktiv.
5. Bias-Awareness-Trainings
Nicht als Pflichtseminar, sondern als Reflexionsformat mit realen Fallbeispielen. Die Erkenntnis, wie unbewusst Vorlieben wirken, verändert Verhalten nachhaltiger als jede PowerPoint.
9. Der kulturelle Kern: Zugehörigkeit
Affinity Bias ist ein Symptom für ein tieferes Thema – die Definition von Zugehörigkeit.
Viele Unternehmen verstehen „Cultural Fit“ falsch.
Er wird zum Code für Ähnlichkeit: Wer uns ähnlich ist, passt.
Dabei sollte Kultur nicht abbilden, sondern erweitern.
Ein modernes Verständnis lautet: Cultural Add – also der Mehrwert, den jemand einbringt, gerade weil er anders ist.
Die Frage lautet nicht: „Passt er zu uns?“
Sondern: „Was bringt sie ein, das uns noch fehlt?“
10. Praxisfall: Wenn der Spiegel blind macht
Ein Energieversorger aus Süddeutschland wunderte sich über hohe Fluktuation bei jungen Mitarbeitenden.
Eine interne Analyse ergab: Fast alle Führungskräfte waren männlich, über 45, mit ähnlichem Hintergrund.
Bewerberinnen und Quereinsteiger kamen selten über das erste Interview hinaus – nicht, weil sie ungeeignet waren, sondern weil „die Chemie nicht stimmte“.
Nach Einführung einer strukturierten Interviewlogik, anonymisierter Screening-Phase und Peer-Feedback aus anderen Abteilungen sank die Fluktuation um 28 %.
Noch wichtiger: In Feedbacks nannten neue Mitarbeitende „Vielfalt der Perspektiven“ als wichtigsten Grund, geblieben zu sein.
11. Verantwortung der Führung
Recruiting ist Teil der Unternehmenskultur, nicht nur HR-Arbeit.
Führungskräfte prägen, welche Maßstäbe gelten – und welche Ausnahmen sie zulassen.
Wenn sie selbst nur vertrauten Mustern folgen, sendet das Signal: Anderssein ist Risiko.
Wer dagegen bewusst mit Unterschiedlichkeit arbeitet, schafft Sicherheit und Innovation zugleich.
Das Ziel ist nicht, Sympathie zu verbannen, sondern sie zu erkennen – und ihr den richtigen Platz zu geben.
12. Haltung statt Reflex
Affinity Bias erinnert uns daran, dass Objektivität Arbeit kostet.
Sie verlangt, den eigenen Komfort zu verlassen – nicht, um Menschen gleichzumachen, sondern um sie fair zu sehen.
Recruiting ist kein Selbstporträt. Es ist der Versuch, das Bild einer Organisation zu erweitern.
Und das gelingt nur, wenn man Unterschiede nicht glättet, sondern integriert.
Denn Ähnlichkeit ist angenehm.
Aber Unterschiedlichkeit bringt Fortschritt.
